Vorwort von Romin Koebel
Mein Vater Eberhard Koebel wurde 1907 geboren. Bekannt geworden ist er als Jugendführer mit dem bündischen Namen „tusk“ durch die Lapplandgroßfahrt von 1929 und die Gründung der dj.1.111. Weniger bekannt ist, dass er davor bereits als Schüler ein von der Fachwelt beachteter Ornithologe war, der alle Vögel Mitteleuropas nach Aussehen und Stimme kannte und dessen Vogelzeichnungen als besonders naturgetreu geschätzt wurden. Da er ein unersättlicher Leser war, ist nicht ausgeschlossen, dass er zu seinen ornithologischen Forschungen nicht nur von den Ornithologen in Stuttgart, sondern auch von Theodore Roosevelt (1858-1919)2 motiviert wurde, auch wenn er sich dazu nicht geäußert hat. Ein Hinweis darauf könnte sein, dass mein Vater 1947 bei der „Englandfahrt zu dritt“ mit uns, seinen beiden Söhnen Romin und Michael, im New Forest Vögel beobachtet hat, wie Theodore Roosevelt mehrere Jahrzehnte zuvor Mein Vater hatte zur englischen Boyscoutbewegung ein kritisches Verhältnis, da er sie als Instrument des englischen Imperialismus und nicht als eine selbstbestimmte Jugendbewegung ansah. Er war außerdem der Auffassung, dass nicht die Erwachsenen, sondern die Jugendlichen die Ziele ihrer Bewegung bestimmen sollten. Diese Einstellung, die mit der Wandervogelbewegung und der Meißner-Formel 1913 übereinstimmte, gab ihm die Sicherheit, die Fehlentwicklung der Bündischen Jugend der 20er Jahre zu kritisieren und die Jungenschaft – und nicht den Lebensbund – zur eigentlichen Aufgabe zu erklären. Mit seinem rastlosen Einsatz für sie wurde tusk zum Begründer der 3. Welle der freien bürgerlichen Jugendbewegung und ist heute nicht nur der bekannteste Jugendführer der1920er/1930er Jahre, sondern fast der einzige, der noch Bedeutung hat.
Mein Vater war eng mit dem Atlantis Verlag verbunden und zog, als ihm dort eine leitende Stelle angeboten wurde, 1930 nach Berlin. Er verband damit die Absicht, die dj.1.11 reichsweit auszudehnen. Martin Hürlimann, der Schweizer Verlagsinhaber, war so stark an ihm interessiert, dass er ihm iim Atlantis-Verlag die Herausgabe der eigenen Jugendzeitschrift „Das Lagerfeuer“ gestattete. Tusk fühlte sich jedoch durch die Verlagstätigkeit so stark in seiner Arbeit für die Jugendbewegung behindert, dass er schon nach eineinhalb Jahren kündigte und sich, mit Unterstützung der Familie, mit dem Lasso-Verlag selbstständig machte. Meine Mutter, Gabriele Koebel, gehörte der Jugendbewegung nicht an und hatte ihr gegenüber Vorbehalte. Insgeheim hätte sie sich gewünscht, dass ihr Mann von Beruf nicht Jugendführer, sondern Ornithologe geworden wäre. Bei der Japan-Rezeption unterstützte sie ihn mit ihren Englischkenntnissen, indem sie englische Aufsätze zum Zen-Buddhismus für die Zs. „Die Kiefer“ ins Deutsche übersetzte.
Ich selbst habe nicht zur Jugendbewegung gehört, obwohl ich gern dabei gewesen wäre. Aber in England und in der DDR gab es dafür keine Möglichkeit. Um einen Ersatz zu bieten, unternahm mein Vater 1947 mit uns Söhnen eine Wanderung mit Rucksack und Zelt durch Südengland. Ich war damals 12 Jahre, Michael 8 Jahre, mein Vater 40 Jahre alt. Da beim Sitzen im Schneidersitz sofort Schmerzen auftraten, die von seiner Rückgratverletzung herrührten3, nahm er am abendlichen Lagerfeuer meist eine liegende Stellung ein. Er kochte am Feuer das Abendessen und erzählte, wie er in Lappland „Kachko backen“ gelernt hatte. Unsere Wanderung führtevon London zum Strand beim Seebad Shoreham, ging dann durch den New Forest und am Rufus-Stein vorbei, erreichte die Kultstätte Stonehenge und endete auf der kleinen Farm von Onkel Finn, Tante Mary und ihrem Sohn Norman in Charleton4, entfernten Verwandten meines Vaters. In Salisbury kam unsere Mutter zu einem Besuch, übernachtete aber nicht mit uns im Zelt, sondern in einem Ferienzimmer im Bauernhaus.
Mein Vater war deutlich jünger als seine beiden Brüder Ulrich und Dietrich, die Juristen wurden. Er kränkelte als Kind, litt an Asthma und war für seine Eltern ein Sorgenkind. In der Familie wurde er, abgeleitet von seinem Vornamen, „Ebbesle“ genannt. Vor allem sein Vater benutzte diesen Kosenamen. Er war kein guter Schüler und wurde wegen einer frechen Bemerkung sogar vom Gymnasium verwiesen.Als er sein Abitur an der Oberrealschule Bad Cannstatt bestanden hatte, waren seine Eltern erleichtert. Er selbst konnte sich nicht freuen und kommentierte die bestandene Prüfung mit den Worten: „Der Jammer hatte zu lange gedauert.“5 Als eine Art Belohnung finanzierte ihm die Familie 1926 eine fünfmonatige ornithologische Fahrt zur finnischen Vogelinsel Heinäsaari, der 1927 ein ähnlich langer Aufenthalt in Schwedisch-Lappland folgte. Diesen brach er kurzfristig ab, als er von einer als Wahrsagerin bekannten Frau gesagt bekam, dass sein Vater im Sterben liege. Als er in Stuttgart eintraf, war sein Vater bereits tot.
Eckard Holler habe ich über Rele Seidel , eine gute Bekannte unserer Familie, kennen gelernt. Er war in der Nachkriegsjungenschaft aktiv, hat sich bereits 1968 mit dem Ostberliner Nachlass meines Vaters beschäftigt und die Übergabe an das Archiv der Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein veranlasst. Wir waren gemeinsam bei den Treffen des „Maulbronner Kreises“, die alljährlich im Kloster Maulbronn in Erinnerung an die Gründung der dj.1.11 im November stattfinden. Eckard ist durch eine Vielzahl von Artikeln, Vorträgen und Publikationen, Leitung von Tagungen und nicht zuletzt durch seine linksalternative Einstellung in jugendbewegten Kreisen eine bekannte Persönlichkeit, dessen Urteil Gewicht hat. Ich erinnere mich noch gut an unseren gemeinsamen Besuch des „Oktoberlagers 1994“ der „Jungen Bünde“, bei dem Eckard über die Linkswendung seines Jungenschaftskreises in der 68er Zeit berichtete, für die tusks Linkswendung ein Vorbild gewesen sei. Mit Eckard war ich auch der Burg Waldeck, einem Traditionsort der Jugendbewegung, wo heute von der ABW6 eine moderne soziokulturelle Arbeit auf bündischer Grundlage geleistet wird. Ich besitze ein kunstvolles Skizzen- und dFoto-Tagebuch von ihm von der gemeinsamen Reise zu den heutigen bündischen Zentren, für das ich ihm dankbar bin.
Die vorliegende Biographie meines Vaters hat den Vorzug gegenüber anderen Darstellungen, von einem Insider geschrieben zu sein, der die Jungenschaft nicht nur aus den Akten kennt. In einer langjährigen und aufwändigen Arbeit hat Eckard aus vielen privaten und öffentlichen Archiven das Material für die vorliegende Biografie gesammelt, hat viele Gespräche mit Angehörigen, Freunden und Zeitzeugen meines Vaters geführt und ist wie kein zweiter befähigt, die Stufen seiner Entwicklung gründlich und umfassend darzustellen und dort richtig zu stellen, wo Korrekturen notwendig sind. Das gilt insbesondere für die Korrektur des Zerrbilds eines politischen Wirrkopfs, das die politischen Gegner geschaffen haben.
„It‘s a great service, Eckard, thank you“.
Dr. Romin Koebel Boston, 30.09.2016